tiny little gizmos

Was ist eigentlich faul im Westen?

Der Aufstieg der politischen Rechten in vielen westlichen Ländern irritiert und erschreckt. Ich versuche mal auch etwas Positives darin zu sehen: Es wird damit begonnen, über den Status Quo in Gesellschaft und Wirtschaft nachzudenken. Ich meine wirklich nachzudenken. Ich habe jahrelang nicht so viele Analysen und hinterfragende Artikel gelesen, wie im letzten Jahr. Es keimt ein Verständnis für „die Anderen“. Dabei meine ich keinesfalls Rechtsruck oder Anbiederei, sondern wirklich ein Hinterfragen der eigenen Standpunkte, Sichtweisen und Werte. Das ist nämlich höchste Zeit. Mich selber will ich überhaupt nicht ausnehmen.

Parallelgesellschaften

Für mich selbst war der erste Schritt zum Verständnis der Unruhe das Erkennen von Parallelgesellschaften. Dabei meine ich nicht etwa Ali und Fatima, die nach südostanatolischen Riten in Kreuzberg wohnen. Sicher – die gibt es auch, aber ich meine Parallelgesellschaften, die mich selber viel unmittelbarer betreffen.

Ich hatte vor ein paar Jahren, als ich Freunde in San Francisco besuchte, drei echte Aha-Erlebnisse die ich aber damals noch nicht recht einordnen konnte:

  1. Auf einer privaten Party in Berkeley wurde ich beim Smalltalk gefragt, in welchem Bereich ich in Deutschland denn so arbeite – CleanTech oder Medien. Wow – von 1000 möglichen Berufsfeldern kamen offensichtlich nur zwei in Frage – und eins war tatsächlich ein Treffer!
  2. Als ich durch die Cafés im Mission District in San Francisco schlenderte, fiel mir etwas auf; Die Leute um mich herum waren mir angenehm, ich verstand die Dresscodes, hatte eine Idee, wie und an was sie arbeiten und wie sie ticken. Ich kam mir nicht als Tourist und Ausländer vor. Obwohl ich mir sehr klar darüber bin, dass in den USA sehr viele Dinge erheblich anders laufen, als in Deutschland, fühlte ich mich fast wie zu Hause. Ich hatte das Gefühl, mit diesen Leuten mehr Gemeinsamkeiten zu haben, als mit vielen Deutschen aus der Provinz. Gleichzeitig war mir klar, dass dieser Ort zwar geographisch in den USA lag, aber mit Werten, Normen, Zielen und Verdienstmöglichkeiten der amerikanischen Durchschnittsbevölkerung überhaupt nichts zu tun hat.
  3. Auf einer Firmenparty in Downtown San Francisco kam ich mit Softwareentwicklern aus USA, Schottland und Serbien locker ins Gespräch. Irgendwann sprachen wir über die Verständlichkeit der verschiedenen englischen Dialekte, weil die Leute dort aus allen Teilen der Welt zusammenarbeiten. Ich sagte irgendwann, dass ich eigentlich alle so einigermaßen verstehe – nur bei der Autovermietung hätte ich drei mal nachfragen müssen. Darauf wurde locker eingeworfen „ja, aber das waren sicherlich Schwarze“. Darauf meinte ich, dass die Aussage nicht gerade politisch korrekt wäre. Die Antwort saß wie die Faust im Gesicht: „Das stimmt – aber sei ehrlich: Wie viele Schwarze hast Du heute auf der Konferenz gesehen, oder in den Firmen die Du besucht hast? Da sind weiße Amerikaner aus der Mittelschicht, Europäer, Asiaten und ein paar Inder. Alle alle haben studiert. Es gibt so gut wie keine Mexikaner, keine Schwarzen, keinen White Trash“.

Ein weiteres Aha-Erlebnis hatte ich neulich in Berlin. Ich hatte eine Foto-Session, bei der ich systematisch den Bereich um die Marzahner Promenade fotografiert habe.

Marzahn – jener Stadtteil, von dem man in Prenzlauer Berg schon mal abschätzig sagt, dass er „kurz vor Polen liegt“ und das nicht nur geographisch, sondern auch wirtschaftlich meint. Man weiß ja, wie es dahinten zugeht: Platte, Ghetto, Wendeverlierer und Rechtsradikale, no-go Area. Nicht wahr – das weiß man doch.

Quatsch! Gefühltes Wissen. Eigentlich weiß man gar nichts, weil man nie dort ist und auch niemanden kennt, der dort wohnt. Was habe ich also vorgefunden?

  • Zunächst mal sehr viel Platz. Breite Straßen, ziemlich viel Grün. Sehr großzügige Fußgängerbereiche zwischen den zehngeschossigen Plattenbauten. Das ist schon mal sehr viel anders, als im Berliner Innenbereich, wo jede Baulücke geschlossen wurde, die Parks totgefeiert werden und die Verkehrs- und Agressionsdichte sehr hoch ist.
  • Ich habe viel mehr Ausländer gesehen, als ich erwartet hatte. Da hat sich in den letzten Jahren offensichtlich einiges geändert. Die Anzahl der Menschen, die offensichtlich von sehr wenig Geld leben müssen, kam mir auch sehr hoch vor.
  • Interessant, aber auch, was ich NICHT vorgefunden habe: Penner, Graffitis, Scherben auf den Fußwegen und ramponierte Grünanlagen. Man spürt die Bemühungen, den Ort in Ordnung zu halten. Die Gebäude sind saniert, die Wege sauber, die Marzahner Promenade wird neu gestaltet.
  • Marzahn ist von Prenzlauer Berg gerade mal 10 Km entfernt, und trotzdem war ich von dem Ort überrascht. Dort wohnen viele Menschen, die sich die Innenstadt nicht mehr leisten können. Weniger Geld bedeutet aber eben nicht zwangsweise Ghetto.

Stammeszugehörigkeit statt Nationalität

Ich fragte mich, wie es sein kann, dass ich mich einem 9000 Km entfernten Stadtteil einer US Großstadt emotional näher fühle, als einem 10 Km entfernten Ortsteil meiner eigenen Stadt?

In Marzahn fiel mir spontan der Begriff „Parallelgesellschaft“ ein. Und mir wurde klar, dass die Parallelgesellschaft nicht in Marzahn wohnt, sondern in Prenzlauer Berg.

Ich bin selbst die Parallelgesellschaft.

Und plötzlich machen viele Dinge Sinn, über die ich mich stets etwas gewundert hatte:

Damals in San Francisco hatte ich das vage Gefühl, einem geheimen Stamm anzugehören, der sich kaum über die geographische und kulturelle Herkunft definiert, sondern sich sein Wertesystem gerade selber zusammenbastelt. Mir fiel der alte Spontispruch ein, dass die wahren Grenzen nicht zwischen den Völkern verlaufen, sondern zwischen oben und unten. Aber ich war weder oben noch unten, sondern irgendwie parallel daneben.

Ich war verblüfft, wieviele Menschen in Europa nicht nur den Euro abschaffen, sondern auch wieder Grenzkontrollen einführen wollen. Sicherlich ist vieles in der EU reformbedürftig, aber genau die Reise- und Niederlassungsfreiheit und die gemeinsame Währung habe ich immer als einen der wichtigsten Erfolge der 90er Jahre gesehen. Es war mir völlig unverständlich, wie man dagegen sein kann.

Ganz klar: Wir haben völlig unterschiedliche Perspektiven.

Ich habe selber schon mal ein paar Monate im Ausland gearbeitet, war immer mobil. Ging ja nicht anders, wenn man einen halbwegs vernünftigen Job haben wollte. In meinem Freundes- und Bekanntenkreis sieht es nicht viel anders aus: Drei Personen sind in den letzten Jahren nach Australien ausgewandert, einer nach Argentinien, drei nach Kalifornien. Eine Bekannte hat drei Jahre in Saudi-Arabien gearbeitet, bevor sie in die Schweiz gezogen ist und eine Person hat bereits in Marseille und Rio de Janeiro gewohnt, bevor sie nach Deutschland zurück kam.

Das hängt natürlich auch vom Beruf ab. IT, Medien, Management, Kunst,…

Ich habe Bekannte, die in Nordfinnland wohnen. Ab und an trifft man sich mal in Berlin oder eben dort oben. Das ist für mich so normal, dass ich gar nicht mehr darüber nachgedacht habe.

Aus meiner Perspektive ist jede Grenze und alles was meine Mobilität behindert schlecht.

Kontrollverlust und fremde Werte

Die breite Masse mit normalen Jobs (Verkäufer, KFZ-Mechaniker, Friseur, Verwaltungsangestellte, …) ist bei weitem nicht so mobil. Die fliegen vielleicht einmal im Jahr für zwei Wochen nach Mallorca, falls sie es sich leisten können.

Deren Perspektive ist nicht, dass sie selber mobil sein wollen, sondern dass von überall her Leute kommen, die sie nicht eingeladen haben. Gleichzeitig sind immer mehr Arbeitsplätze ins Ausland verlagert worden. Die Menschen sind damit einfach überfordert und fühlen sich überrollt.

  • Sie protestieren dagegen, dass normale Arbeit vollkommen entwertet wurde.
  • Sie protestieren dagegen, dass ihre Werte nicht mehr respektiert werden.
  • Sie protestieren dagegen, dass ihnen auf arrogante Art ständig andere Werte aufgezwungen werden sollen: Flexibilität statt Sicherheit, Weltoffenheit statt Bodenständigkeit, veganes Essen statt leckerem Schweinebraten, Radfahren statt einem schicken Auto, Urbanität statt Häuschen im Grünen, usw.
  • Sie protestieren eigentlich nicht gegen die offenen Grenzen, sondern gegen den eigenen Kontrollverlust.

Und das kann ich sehr gut verstehen.

Und unsere Führungskräfte müssen das auch verstehen – und zwar ziemlich schnell. Wir brauchen bedachte Kurskorrekturen, bevor die Gegenbewegung eine Dynamik annimmt, die mehr kaputt macht, als wir und vorzustellen wagen. Das gilt für Deutschland genauso, wie für die USA, Großbritannien, Frankreich und eigentlich alle westlichen Länder.

Ich möchte hier noch auf einen Artikel im Tagesspiegel verweisen, der ähnlich argumentiert: „Eine andere Welt ist möglich – aber als Drohung