tiny little gizmos

Das leiseste Motorradfestival der Welt: Reload.Land

Aufgrund der guten Resonanz im letzten Jahr, fand auch in diesem Jahr wieder das Reload.Land Festival für Elektromotorräder statt. Veranstaltet von Mitgliedern des Craftwerk in Berlin Lichtenberg. Das ist ein Treffpunkt für Motorradbegeisterte, Selbsthilfewerkstatt und ein Veranstaltungsort.

Über die erste Veranstaltung im letzten Jahr hatte ich den Artikel „Viele Zweiräder mit Stromantrieb“ geschrieben. Ich bin damals das erste Mal elektrisch angetrieben Zweirräder gefahren, die schneller als 45 km/h sind und war begeistert.

Während die Veranstaltung 2022 noch ein etwas improvisierter Testballon war, ist in diesem Jahr alles ein wenig professioneller. Von den kostenlosen Eintrittskarten, über eine schön präsentierte Ausstellung von Custom Elektro Bikes bis hin zu den Ausstellern.

Reload.Land – Elektromotorräder vor dem Craftwerk in Berlin

Wer war da – oder auch nicht?

Am „unteren Ende“ waren die E-Bike Hersteller Urban Drivestyle und Super 73 leider nicht mehr dabei. Dafür kam am „oberen Ende“ ordentlich was dazu. BMW zeigte seinen erfolgreichen Elektroroller CE04, Harley Davidson brachte seine LiveWire Modelle mit (leider nur zum Angucken und Probesitzen) und Energica kam mit seiner ganzen Produktpalette vorbei und bot geführte Touren an.
Brekr aus den Niederlanden und RGNT aus Schweden und Zero aus den USA waren auch wieder vor Ort, dafür fehlte Cake aus Schweden.

Zero mit breiter Modellpalette – Der Auspuff an der roten SR/F ist natürlich Kokolores.

Besonders gefreut habe ich mich, daß Sur-Ron anwesend war und ein paar schöne Stücke mitbrachte und auch der direkte Konkurrent Talaria zeigte ein neues Modell.

Neben dem lockeren Herumschlendern und Strom schnacken, konnte man natürlich auch wieder viele Maschinen zur Probe fahren. Im letzten Jahr hatte ich das E-Moped von Brekr, A1 Bikes von BlackTea Cake und Ovaobike, sowie die FX/E und die SR/S von Zero gefahren.

Harley Davidson Livewire S2 Del Mar im Flattracker Stil

In diesem Jahr hatte ich mich auf BMW, Harley Davidson Livewire und Energica gefreut. Aus der Fahrt mit der Livewire wurde leider nichts. Sowohl die bekannte S1 als auch die neue S2 Del Mar waren nur zum Angucken und Probesitzen vor Ort. Schade. In meinen Augen eine vertane Chance. Dafür fand ich die drei Fahrten, die ich machen konnte umso spannender.

Probefahrt Nr. 1: BMW CE04

Ich hatte mich vor ewigen Zeiten bei BMW zu einer Probefahrt des Elektro-Großrollers CE04 angemeldet. Dazu kam es aber nie, weil das Modell stets ausverkauft war. Umso erfreuter war ich, dass BMW nicht nur anwesend war, sondern auch gleich etliche CE04 mitgebracht hat.

Das Design spaltet: Entweder man findet es völlig unmöglich oder man mag das futuristische. Ich neige zu letzterem. Eine Mischung aus Star Wars und Akira ist für ein modernes Elektrofahrzeug eigentlich genau richtig.

BMW Großroller CE04 im Stil von Star Wars / Akira

Erster Eindruck nach der Annäherung: Solide bis zum geht nicht mehr. Bester deutscher Maschinenbau und auch die Elektronik inklusive hochauflösendem entspiegeltem Display machte einen guten Eindruck und funktionierte tadellos.

Ich musste mich den ersten Kilometer an die Sitzposition gewöhnen. Da ich noch nie einen Chopper oder Großroller gefahren bin, fand ich die Haltung tief zu sitzen und die Füße weit nach vorne zu stellen sehr eigenwillig. Und die Maschine ist breit. Man muss man die Beine schon recht weit spreizen. Daher könnte es für kleinere Menschen trotz des tiefen Sitzes unerwartet schwierig werden, die Füße auf den Boden zu bekommen. Dazu kommt der wirklich lange Radstand und das recht hohe Gewicht. Ein Wunder an Wendigkeit ist der CE04 also nicht.

Dafür liegt er satt auf Straße, lässt sich trotz der kleinen Räder nicht von Spurrillen irritieren. Beschleunigung ist wie bei allen Elektrofahrzeugen mehr als ausreichend. Genauso klasse ist die Rekuperation. Bei halbwegs ziviler Fahrweise braucht man die Bremse kaum. Lieber die Bewegungsenergie wieder zurück in den Akku.

Der CE04 ist durch sein Gepäckfach (das ruhig etwas größer sein könnte) und die Typ2 Ladebuchse alltagstauglich. Kein Wunder, dass er sich gut verkauft. Der Basispreis von €12.000,- ist für ein so brauchbares Elektrofahrzeug akzeptabel. Auch große Verbrenner Roller kratzen gerne mal an der 10.000er Marke. Aber BMW wäre nicht BMW, wenn es nicht eine lange Aufpreisliste geben würde…

Mein Fazit: Ich bin nicht spontanverliebt, aber der CE04 ist ein gutes, interessantes Fahrzeug. Alltagstauglich, spritzig, super verarbeitet. Zwar teurer als ein Verbrenner, aber nicht mehr doppelt oder dreifach so teuer. Für die Eine oder den anderen bestimmt eine Überlegung wert.
Probiert es mal aus. Macht Spass!

Probefahrt Nr. 2: Energica EsseEsse9

Im letzten Jahr hatte ich die Zero SR/F als Benchmark für Motorräder bezeichnet. Umso mehr habe ich mich auf das vergleichbar positionierte Modell vom italienischen Hersteller Energica gefreut. Und die Vorfreude war berechtigt. Denn wenn Italiener im Fahrzeugbau so richtig Herzblut (und Geld) investieren, ist das Ergebnis eigentlich immer extrem geil! Die Maschinen sahen alle bis ins Detail scharf aus. Auch die Qualitätsanmutung ist super.

Vorne die scharfe Energica Ribelle, dahinter die etwas zahmere EsseEsse 9

Natürlich darf es auch kleinere Extravaganzen geben. Die Lösung Fahrmodi (inkl. Rückwärtsgang!) über den Killswitch zu lösen fand ich jetzt nicht so überzeugend. Das hat einen Kollegen bei der Probefahrt auch für 3min. zum Stehen gebracht. Die Probefahrt war nämlich in Gruppe mit einem jungen italienischen Energica Mitarbeiter als Guide. Er fuhr teilweise dort, wo es technisch machbar war etwas – hmmmm – engagiert. Sagen wir mal so: Ich war ganz froh, einen Helm zu tragen und ein italienisches Kennzeichen am Fahrzeug zu haben.

Andererseits: Als wir in einer 30er Zone mit fünf italienischen Sportmotorrädern an einem Biergarten vorbeifuhren und kaum zu hören waren, gab es schon einige erstaunte Gesichter. Im Vergleich zu einer fahrtechnisch ebenbürtigen Ducati sehr leise, aber im Vergleich zu einer Zero deutlich lauter. Dafür sorgt der Antrieb, der die Umwelt wissen lässt, dass hier mechanisch etwas passiert. Aber ich denke, dass das ein guter Kompromiss ist. Noch gehört zu werden, aber nicht rumzunerven ist eigentlich genau das, was man haben will.

Leistungsmäßig ist das hier Oberklasse: 80 kW und satte 207 Nm Drehmoment. Von 0 auf 100 in 3 Sekunden. Noch Fragen?

Andersherum von 100 auf 0 ist dank fetter Brembo Bremsen ebenfalls kein Problem. Das Fahrwerk ist auch über jeden Zweifel erhaben und bietet durchaus mehr Komfort, als erwartet. Vermutlich auch dank des heftigen Gewichts von 260 kg. Die merkt man Gottseidank nur im Stand, bzw beim Rangieren. Selbst sehr langsame Fahrt (Stop and go) ist geschmeidig. Das hat sie mit der Zero gemeinsam.

Das hohe Gewicht liegt zum Teil am Lithium-Polymer Akku mit einer Kapazität von sagenhaften 21,5 kW/h. Das ist so viel, wie vor wenigen Jahren die ersten E-Autos hatten. Und er ist serienmäßig schnelladefähig. Per DC können 6,7 km/min nachgeladen werden. 200 km fahren, 30 Minuten Pause für Toilette, Kaffee, Auflockern und dann weiterfahren ist also völlig realistisch. Einer aus der Gruppe fuhr privat eine Zero und war verblüfft, dass wir auf der Tour nur 2% der Akkuladung verfahren haben.

Mein Fazit: Ich habe ein neues Traummotorrad. Ein Traum wird es aber auch bleiben, bei €25.000,- Einstiegspreis. Puh…

Probefahrt Nr. 3: Sur-Ron Ultra Bee

Dafür habe ich unerwarteterweise einen interessanten, bezahlbaren Kandidaten für Pendeln im urbanen Bereich gefunden: Die Sur-Ron Ultra Bee.

Sur-Ron Ultra Bee – kleines, leichtes Geländemotorrad

Sur-Ron ist seit Jahren mit seinen Off-Roadern Firefly (siehe mein Fahrberich „Der Ritt auf dem Glühwürmchen„) und der Storm Bee gut im Geschäft. Es gibt mittlerweile auch unfassbar viele Zubehör- und Tuningteile.

Genau zwischen die kleine Firefly und die ausgewachsene Storm Bee haben sie jetzt die UltraBee platziert. Ich konnte das zulassungfähige A1 Motorrad mit Geländebereifung auf dem Geländeparcour testen. Das sehr schmale und leichte (86 kg!) Motorrad ist natürlich extrem handlich und wendig und bügelt grobe Unebenheiten einfach aus.
Mit den 6 kW Dauer- und 12,5 kW Höchstleistung kommt sie zwar nur auf 90 km/h Spitze, aber ist in flotten 2,5 Sekunden von 0 auf 50. Das macht Spass! Mit Strassenreifen in der Stadt bestimmt auch.

Und der Akku? Er hat 4 kW/h (72 V, 55 Ah) Kapazität. Man kann ihn herausnehmen, aber bei über 20 kg Gewicht wird man das wohl lieber lassen. Dafür kann man das Ladegerät unter dem Sitz mitnehmen und mit einem Typ2 Adapter sogar an AC Ladesäulen klemmen. Sur-Ron gibt eine maximale Reichweite von 120 km an, aber das ist m.E. völlig unrealistisch. Ich bin seinerzeit mit 1,7 kW/h ca. 40 km weit gekommen – im Stadtverkehr. Ich tippe also auf ca. 80 km in der Stadt. Der Spass kostet €7.500,-

Customizing

Die Motorradszene liebt das customizing, das von leichten Anpassungen bis zu komplett Um- und Neuaufbauten geht. Ich habe an meiner Suzuki ein kurzes Heck, LED Lauflichtblinker und einstellbare, rot eloxierte Kupplungs- und Bremshebel. Das sind eher sehr dezente Anpassungen. Da sieht man im Craftwerk ganz andere Dinge.

Und wenn man Verbrenner Motorräder umbauen kann, geht das mit elektrischen natürlich erst recht. Viele Exemplare wurden in einer liebevoll gestalteten Ausstellung gezeigt. Hier nur ein kleiner Ausschnitt.

Ant basiert auf einem Modell von Cake
Brekr Moped Umbau
Ungefederter Eigenbau (?) mit fragwürdiger Bereifung
Heftig getunte (von 60V auf 80V) und umgebaute Sur-Ron Light Bee

Silent Ride

Am Abend des ersten Tages wurde eine gemeinsame Ausfahrt durch Berlin durchgeführt – natürlich ausschließlich mit Elektrofahrzeugen (auch ein elektrischer VW Käfer Umbau war dabei). Ich habe mit das ganze vom Straßenrand aus angesehen. Es ist schon ziemlich speziell, wenn eine Horde von 50 Motorrädern an einem vorbeifährt und das akustisch im normalen Straßenlärm völlig untergeht.

Fazit

Klasse Veranstaltung. Ich hoffe, das wird zu einer Dauereinrichtung. Im letzten Jahr hatte ich noch gefragt „Die Zukunft ist elektrisch – aber ist es die Gegenwart auch schon?“ Bei aller Freude und Faszination für die Fahrzeuge schreckte doch immer noch die eingeschränkte Praxistauglichkeit und der Preis der Fahrzeuge. Der Preis bleibt ein Thema, aber bei der Praxistauglichkeit ist der Fortschritt in nur einem Jahr schon deutlich spürbar. Vor dem Ende des Benzinzeitalters muss man als Zweiradfahrer jedenfalls keine Angst haben.