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Biennale Arte 2022, Venedig

In diesem Jahr findet die 59. Biennale Arte di Venezia statt, nachdem sie letztes Jahr aufgrund von Covid verschoben wurde. Das nahm ich zum Anlass, dieser einzigartigen Stadt wieder einen mehrtägigen Besuch abzustatten.

Anreise

Mein erster Flug nach zweieinhalb Jahren war gleichzeitig mein erster vom BER. Fazit hierzu:
Es geht, aber geil ist anders.

Ich brauche länger dorthin, aber immerhin muss ich nur ein Mal umsteigen. Es ist zwar mehr Platz als in Tegel – aber so richtig viel auch wieder nicht, wenn der Reisebetrieb wieder auf Hochtouren läuft. Wieso baut man Terminals immer noch so, dass sofort der Durchgang verstopft, sobald zum Boarding aufgerufen wird?

Der Stil des BER ist irgendwie uninspiriert; Airport-Standardbaukasten 1995. O.K, Geschenkt.

Wirklich stören mich die scheinbaren Kleinigkeiten: Zu wenige und zu kleine Toiletten, der unfassbar öde Logistikhalllen-Charakter des Seitenflügels und wenn man schon gefühlt 5km laufen muss – weshalb funktionieren die Laufbänder dort eigentlich fast zwei Jahre nach der Eröffnung immer noch nicht?

Immerhin: Hin- und Rückflug waren ruhig und pünktlich trotz der Warnstreiks bei Easyjet.

Und damit komme ich zum schönen Teil – Venedig. Ich habe wieder dasselbe kleine Hotel in San Marco gebucht, in dem ich bereits 2017 und 2019 untergekommen war. Es liegt mitten im Getümmel, einer ca. 2m breiten Gasse genau zwischen Rialtobrücke und Markusplatz.

Canal Grande mit etwas weniger Verkehr als in den vergangenen Jahren


Venedig voll / leer

Zwischenzeitlich soll es in Venedig ja bezaubernd ruhig gewesen sein. Leider war davon nicht mehr allzuviel zu spüren. Wäre ich zum ersten Mal dort gewesen, hätte ich die Stadt vermutlich als „voll“ bezeichnen. Aber man merkte schon, dass Besucher aus Russland und USA fehlten. Präsent waren hauptsächlich Westeuropäer, Asiaten und – man glaubt es kaum – Touristen aus Italien selbst. Und vor allem waren keine Kreuzfahrtschiffe dort. Alles in Allem also sehr gut gefüllt, aber noch erträglich. Vor allem am Abend und abseits der Hotspots war es doch spürbar ruhiger als die letzten beiden Male.

Servicezeiten

Nicht ganz so gut: Es gab weniger Touristen, aber dafür auch etwas reduzierten Service. Die Biennale öffnete erst ab 11:00 statt um 10:00, was wirklich etwas spät ist, weil sich so große Mengen vor dem Eingang sammeln, die dann gleichzeitig das Gelände fluten. Im Arsenale ist das problematisch, weil die erste Hälfte der Ausstellung in der 360m langen, schlauchartigen alten Seilerei stattfindet. In den Giardini verläuft sich die Menge hingegen besser. Die Eintrittskarte zu € 25,- gilt für Arsenale und Giardini – und man kann das auf beliebige Tage aufteilen.

Lange Warterschlange um Viertel vor Elf

La Biennale

Der Titel der Biennale 2022 lautet „The Milk of dreams„.
Okay, was immer das bedeuten soll. Habe ich mich nicht drum gekümmert. Nicht zuviel denken – am besten direkt rein ins Getümmel.

Ein thematischer Schwerpunkt der Ausstellung sind Frauen.

Hmm, findet Ihr auch, dass dieser Satz irgendwie etwas seltsam klingt?.
Genau so seltsam kam für mich ein Teil der Ausstellung rüber. Wenn etwas Holzschnittartig als „Frauenthema“ präsentiert wird (die üblichen Arbeiten mit Textilien, Fruchtbarkeitsthemen etc.), dann hat das zwar sozial seine Berechtigung, aber es interessiert mich als Kunst nicht. Und mal ehrlich – sind Bilder, in denen die Gebärmutter ins Zentrum gestellt wird, nicht genau blöde, wie phallische Werke von Männern?

Wenn hingegen Thema und/oder Werk interessant sind, ist mir das biologische oder gefühlte Geschlecht des Urhebers eigentlich völlig schnuppe. Und da gab es etliche Künstlerinnen, die spannende Sachen gemacht haben. Zum Beispiel Vera Molnár, Marina Apollonio, Ulla Wiggen oder Louise Nevelson.

Bei der Aufzählung wird bereits deutlich, dass auch wieder viele Werke retrospektiv gewürdigt wurden. Es gab auch einen Bereich mit Werken aus den 1920er Jahren zum Thema Mensch/Roboter/Cyborg. Was mich thematisch gleich zu den zeitgenössischen, verstörenden Robotertorsi der südkoreanischen Künstlerin Jeong Geumhyung führt. Das fand ich interessant, weil sie Fragen des (Trans-)Humanismus aus der Zukunft im Jetzt stellt. „Was tun diese Maschinenmenschen dort eigentlich?“

Robotertorsi von Jeong Geumhyung

Überhaupt Korea: Der koreanischen Pavillon in den Giardini ist auch in diesem Jahr ein guter Anlaufpunkt, wenn einen Themen an der Schnittmenge Gesellschaft/ Technik/ Bionik und ähnliches interessiert. Höhepunkt ist hier das Objekt Chroma V von Yunchul Kim, das im Pavillon hängt und bei mir sofort die Assoziation zu einer verknoteten Seeschlange hervorrief. Dieser Eindruck verstärkte sich nach ein paar Minuten massiv, als die Figur anfing „zu atmen“. Hunderte von Stellmotoren verbiegen in einer Wellenbewegung die schillernden bunten „Hautschuppen“ aus mit Polymerflüssigkeit gefüllten Kunststoffolien. Für mich einer der Höhepunkte der Biennale.

Chroma V von Yunchul Kim im Pavillon von Südkorea

Zwischen Höhepunkt und Tiefpunkt liegen zwanzig Meter.

Gleich links neben Südkoreanischen Pavillon befindet sich dagegen für mich einer der absoluten Tiefpunkte:

Der Deutsche Pavillon.

Ich gebe ja zu, daß das monumentale Gebäude über dessen Eingang zudem noch „Germania“ steht, provoziert und zu Assoziationen mit Faschismus einlädt. Und ja – natürlich ist diese Zeit nicht nur für Deutschland, sondern mindestens für ganz Europa, ein derartig traumatischer Einschnitt, dass man ihn niemals relativieren, verdrängen oder vergessen darf.

Ärgernis erster Güte – der deutsche Beitrag

Wenn man aber aus diesem Themenkreis gedanklich gar nicht mehr ausbrechen kann (Thema quasi jeder Biennale seit der Wiedervereinigung), wenn man immer nur nach hinten, aber nicht mehr nach links, rechts, oben, unten oder gar nach vorne gucken kann, um sich wichtigen Fragen der Gegenwart und Zukunft zu stellen, so wird es irgendwann pathologisch (Intrusive Trauma Symptomatik). Man muss sich dem Trauma stellen, aber man muss es auch irgendwann überwinden.

Und das stieß nicht nur mir bitter auf. Laut Süddeutscher Zeitung gab es internationale Kritik „dass die deutsche Kunst den Blick nicht hebt, dass man an der NS-Geschichte klebe wie an einem Unique Selling Point.“

Ups – die monströse Vergangenheit als deutsches „Verkaufsargument“?
Böse, böse! Aber vielleicht sogar zutreffend?

Im italienischen Pavillon wird das Verschwinden der Industrie in Norditalien thematisiert


Aber nicht nur das Thema selbst, sondern auch der Umgang nervt kollossal. Maria Eichhorn ließ den Pavillon leer und riss einen Teil davon ab. Es heißt, am liebsten hätte sie das ganze Gebäude verschwinden und irgendwo anders hinstellen lassen, was aber nicht erlaubt wurde.

Beitrag aus Malta: flüssiges Metall tropft von der Decke in Wasserbecken

Ich finde daß, dieser Umgang mit Dingen, die einem extrem unangenehm sind, leider sehr symptomatisch für die Gegenwart ist. Man macht einerseits ein großes Bohei um bestimmte unangenehme Themen und versucht sie gleichzeitig mit Tabus in Verhalten und Kommunikation „in den Griff zu bekommen“ (siehe „N-Wort“, „Z-Wort“ etc.).
Am Ende hat man etwas kaputt gemacht aber gar keinen Inhalt mehr.

Für mich ist das Ganze ein Paradebeispiel, wie man Dinge BITTE NICHT MEHR anzugehen hat.
Das ist wie das deutsche Abo auf den letzten Platz des Eurovision Song Contest…

Zumal ich gesehen habe, dass Heinz Mack 1970 in genau demselben Gebäude einen sehr gute, modernen Beitrag gezeigt hat, obwohl (oder weil) er ja ja sehr viel direkter von dem Horror des dritten Reiches und dem zweiten Weltkrieg betroffen war, als Frau Eichhorn.

A propos Krieg…

Der russische Pavillion war aus naheliegenden Gründen geschlossen und wurde bewacht, um Anschläge zu verhindern. Der Ukrainische Beitrag befand sich mitten auf dem Gelände zwischen Buchladen, Café und Bühne. Er bestand im Prinzip aus versengten Holzpfeilern, die mit gedruckten Nachrichten beklebt waren.

Um mitzubekommen, dass gerade mitten in Europa ein Krieg tobt, musste man also schon ziemlich genau hinsehen. Das scheint irgendwie kaum jemanden wirklich zu interessieren. Auch wenn man berücksichtigt, dass der Krieg zeitlich erst kurz vor der Eröffnung der Biennale begann – irgendwie ein echt schwaches Bild!

Interessantes außerhalb der Ausstellungsgelände

Die Ausstellungen im Arsenale und in den Giardini hinterliessen also eher einen gemischten Eindruck bei mir. Kommen wir zu Tag 3:

Wie schon 2019 (siehe Artikel „Venedig 2019“ ) fand ich sehr spannende Beiträge außerhalb der Biennale in interessanten Gebäuden. Und für mich als abgebrochener Stadtplaner und architekturinteressierter Mensch, gibt dieser Einblick in die architektonische Vergangenheit dieser Stadt so viel zusätzliche Freude.

Heinz Mack hatte ich ja eben bereits in meiner Kritik zum deutschen Beitrag genannt. Passenderweise fand in den Räumen des Museo Archeologico Nazionale di Venezia direkt in den neuen Prokuratien am Markusplatz eine Mack-Retrospektive statt. Die Kunst ist sehr gut, aber die Räumlichkeiten sind umwerfend und dann stehen dort ja auch noch die normalen Ausstellungsstücke, wie die originale Fra Mauro Weltkarte von 1459, die bereits sehr genaue Angaben zu Orten in Europa, Afrika und Asien zeigt. Teilweise wusste ich gar nicht, wohin ich zuerst sehen sollte: Zur unglaublichen Decke, zur modernen Kunst oder zu den historischen Artefakten.

Lichtstelen von Heinz Mack (Deutscher Biennale Beitrag 1970)
Die Kunst! Der Raum!! Die Decke!!!
Original Fra Mauro Weltkarte von 1459 (Norden ist hier unten)

In meinem Artikel „Venedig 2019“ hatte ich den Besuch des Palazzo Contarini Polignac aus dem 15. Jahrhundert als unerwartetes Highlight bezeichnet, weil das Gebäude teilweise im Originalzustand ist. In diesem Jahr war es sogar noch besser, weil sich die gezeigte Kunst diesmal besser gegen das fantastische Gebäude behaupten konnte. Die unglaublich detaillierten Papierskulpturen von Chun Kwang Young (schon wieder Korea) sind teilweise raumfüllend.
Und diesmal durfte ich sogar fotografieren!

Riesige Papierskulptur im Arbeitszimmer mit Mezzanin
Zwei Papierskulpturen (man beacht die „Tür“ zum Nebenzimmer!)

Genau auf der gegenüberliegenden Seite des Canal Grande befindet sich der Palazzo Cavalli-Franchetti, in dem der portugiesische Beitrag gezeigt wurde. Leider hatte ich nicht die Muße, mir drei Videos über Vampire im Weltall anzusehen, aber das Gebäude aus dem 16. Jahrhundert erschlägt einen mit seiner Pracht schon im Treppenhaus.

Treppenhaus des Palazzo Cavalli-Franchetti

Weiter nördlich, ebenfalls am Canal Grande hatte ich die Gelegenheit eine Ausstellung von Stanley Whitney im Palazzo Tiepolo aus dem 16. Jahrhundert anzusehen.

Stanley Whitney im Palazzo Tiepolo
Nebenzimmer im Palazzo Tiepolo
Der Raum. Dieser Ausblick!

Mein Fazit

Venedig ist immer eine Reise wert. Es ist anstrengend, wuselig und spannend, lehrreich und intensiv.

Auch bei meinem dritten Besuch habe ich wieder viele interessante Dinge gesehen, die für mich neu waren. Und ich bin mir sicher, dass ich der Stadt und ihrer faszinierenden Geschichte auch bei einem vierten oder fünften Besuch noch für mich unbekannte Facetten abgewinnen kann.