tiny little gizmos

…aber Du fährst doch selbst Fahrrad?

Den Satz mit ungläubigem Blick habe ich mir neulich auf dem Weg ins Büro eingefangen. Wer mir auf Facebook folgt, kennt die Geschichte bereits. Für mich war das Anstoß zu diesem Artikel. Ich hätte ihn auch so betiteln können:

Von Fahrrädern auf der Autobahn, Händen auf dem Asphalt und meiner Allergie gegen den Begriff „Verkehrswende“.

Am ersten Juni Wochenende habe ich in Berlin an zwei interessanten Veranstaltungen zum Thema „Verkehr“ teilgenommen. Samstag habe ich das Festival für elektrische Motorräder Reload.Land besucht, mich informiert und Probefahrten unternommen. Darüber habe ich bereits den Artikel „Das leiseste Motorradfestival der Welt: Reload.Land“ geschrieben.

Von Fahrrädern auf der Autobahn

Am Sonntag Morgen habe ich mich auf mein Fahrrad geschwungen und bin bei der ADFC Sternfahrt mitgefahren. Das ist eine seit mehreren Jahren stattfindende, angemeldete Demonstration, bei der sichere Infrastruktur für Radfahrer gefordert wird. Die Forderung halte ich für sehr vernünftig, habe aber noch nie an der Sternfahrt teilgenommen.

Landsberger Allee – da dachte ich „Ui, das sind viele“

Ich habe immer nur am Rande mitbekommen, dass das kein guter Tag ist, um sich ins Auto zu setzen und einen Sonntagsausflug zu machen. Auf 20 verschiedenen Strecken mit insgesamt 1000 km Länge fuhren die Demonstranten aus allen Himmelsrichtungen zum Großen Stern im Tiergarten in der Mitte Berlins. Ein Teil (8,5 km) der Strecke führt auch über den südlichen Stadtautobahnring A100 und über die Avus A115 (11,5 km). Ich hatte mich immer gefragt, weshalb denn nun ausgerechnet über die Autobahn gefahren werden muss.

Kottbusser Damm von Hermannplatz bis Kottbusser Tor voll. „OK, DAS sind viele!“

Jetzt weiß ich es.

Zum Einen natürlich wegen der Symbolik und zum anderen werden am Dreieck Funkturm alle Routen zusammengeführt und 50.000 Radfahrer brauchen Platz.

Nach dem überfüllten Tempelhofer Damm auf die A100 – endlich Platz!

Viel Platz!

So viel Platz, dass selbst die sehr breiten Berliner Hauptstrassen zu eng sind. Lediglich die Stadtautobahn und die Ost-West Achse Bismarckstr. / Straße des 17. Juni sind breit genug für diese Massen. Und trotzdem kam es immer wieder zu Staus. Auf der Autobahn 15 Minuten im Stau zu stehen ist nichts ungewöhnliches. Auf der Autobahn mit dem Fahrrad 15 Minuten im Stau zu stehen, allerdings sehr wohl.

…aber nicht lange. Stop-and-go am Kreuz Schöneberg ist üblich – aber nicht mit Fahrrädern.

Ich fühle mich generell unwohl in Menschenmassen, aber die Veranstaltung war ruhig, friedlich, super organisiert. Die Polizei sperrte die Straßen mit ihren Einsatzwagen und Motorrädern. Und auch die Fahrradstaffel war dabei. Es gab Gott sei Dank nur wenige Leute, die mit lauter Musik unterwegs waren. Und wenn, war es kein Problem, Abstand zu gewinnen. Natürlich hat ein Scherzkeks genau in dem Augenblick „Autobahn“ von Kraftwerk (1974) gespielt, als wir in Tempelhof auf die A100 aufgefahren sind. Das Stück dauerte mit 22 Minuten ungefähr so lang, wie die Fahrt von der Auffahrt Tempelhofer Damm bis zur Abfahrt Messe am Dreieck Funkturm.

Nachdem wir eine Viertelstunde am Dreieck Funkturm standen, ging es endlich weiter

Wer war dabei? Alle!

Was die Sache angenehm genmacht hat: Es waren alle da. Jede Altersklasse, jedes Geschlecht, Szenetypen, Familien mit Kindern, Rentner auf Torenrädern, Sportler auf Rennrädern, Jugendliche auf Mountain Bikes, die Wheelies machten, Rocker auf vermutlich selbstgebauten Chopper-Fahrrädern im Harley-Stil, Typen auf allen möglichen Arten von Lastenfahrrädern und, und, und.
Ein totaler Querschnitt durch die Gesellschaft auf jeder denkbaren Art von Fahrrädern.

Mein Fazit: Das ist eine ganz coole Demo, die bereits optisch klar macht, worum es geht: Es gibt massenweise Radfahrer, die einfach mehr Platz brauchen, als sie jetzt bekommen. Außerdem hatte ich einfach eine gute Zeit und bei bestem Wetter eine nette und sichere 35 km Runde durch die Stadt.

Von Händen auf dem Asphalt

Am darauf folgenden Montag Morgen bin ich zum Büro gefahren – natürlich mit dem Fahrrad. Bei der Annäherung an die Kreuzung Frankfurter Allee / Warschauer Str. sah ich, wie ein quergestellter Bereitschaftswagen der Polizei die Fahrbahn blockiert und daneben eine Person auf der Fahrbahn saß, neben der ein Polizist kniete. Und ich dachte sofort „Oh nein, bitte keinen Unfall mit Fußgänger oder Radfahrer“.

Das war es Gott sei Dank nicht. Es klebten sich mal wieder Leute von der „letzten Generation“ auf dem Asphalt fest. Zum X-ten Mal. Es war eine von wer weiß wievielen Aktionen, die seit Wochen massiv den Berufsverkehr (auf den Fahrbahnen) behinderte. Als ich vorsichtig über die gesperrte Kreuzung fuhr kam einer aus der Truppe mit Flyern in der Hand und stahlendem Gesicht auf mich zu. Als ich anhielt und nicht etwa den Flyer nahm, sondern reichlich genervt fragte, wann sie gedenken mit dem Mist wieder aufzuhören blickte ich in ein verwirrtes Gesicht und hörte den Satz „…aber wieso? Du bist doch auch mit dem Rad unterwegs?“

Ich hatte irgendwie keine Lust auf eine Diskussion, sondern wollte nur ins Büro. Möglicherweise war das falsch. Was ich vielleicht hätte sagen sollen:

„Ja, ich fahre mit dem Rad ins Büro. Aber nicht weil ich ein guter Mensch bin, sondern weil ich ein privilegierter Mensch bin.“

Ich wohne nur fünf Kilometer vom Büro entfernt. Das kann ich mir nur leisten, weil ich einen 25 Jahre alten Mietvertrag habe. Das Büro hat eine abschlossene Tiefgarage in der ich mein Rad an massive Stahlbügel anschließen kann. Wir haben hundert, weil 1/3 der Tiefgarage für Fahrräder reserviert ist. Welches Büro hat das schon? Für mich ist das Fahrrad einfach am praktischsten. Gefolgt von Motorrad, ÖPNV und erst ganz zum Schluss das Auto. Natürlich nehme ich da das Fahrrad.

Aber das war in meinem Leben auch schon mal deutlich anders. Damals, als es in Berlin nahezu unmöglich war, an vernünftig bezahlte Arbeit zu kommen, habe ich es mir nicht ganz freiwillig ausgesucht, 300km zu pendeln. Mehrere Male Hamburg, mal Hannover und die Krönung (im negativen Sinn) war es, mit dem Flugzeug nach Zürich zu pendeln.

Und weil ich das hinter mir habe, bin ich mir meines Standortprivilegs absolut bewußt. Ich verstehe, dass es andere eventuell nicht so gut getroffen haben. Junge Familien, die sich in der Stadt keine Wohnung mehr leisten können und an dem notorisch unzuverlässigen ÖPNV verzweifeln. Selbst innerhalb von Berlin kann man so ungünstige Wege zwischen zwei Orten haben, dass man das mit den Öffentlichen einfach nicht machen will. Die Stadt ist immerhin 900 qkm groß und hat mehr als 30 km Durchmesser.

Meine Allergie gegen den Begriff „Verkehrswende“

Dieses Nichtverstehen des „Aktivisten“ ist leider typisch. Und es ist einer der Gründe meiner Allergie gegen den Begriff der Verkehrwende. Das scheint für die meisten einfach zu bedeuten „Die Autos müssen alle aus der Stadt raus und wir fahren Fahrrad“.

Natürlich ist es besser, wenn ich eine Fahrt mit dem Fahrrad mache, anstelle mich für die paar km ins Auto zu setzen. Aber diese extrem verkürzte Aussage halte ich für viel zu platt. Wenn das alles wäre, müsste die vorbildliche Fahrradnation Niederlande ja spürbar weniger CO2 Emissionen haben, als Deutschland. Schauen wir mal, was das Umweltbundesamt für das Jahr 2020 dazu sagt.

Deutschland: 8,8t CO2 pro Kopf
Niederlande: 9,4t CO2 pro Kopf

„Aber die fahren doch alle Fahrrad????“
Hmm, reicht wohl nicht.

Offensichtlich sind die Dinge doch etwas komplizierter. Es geht um Strukturen, auf die der Einzelne nur sehr begrenzt Einfluss hat. Es geht also darum, diese Strukturen zu ändern. Bessere Radinfrastruktur gehört dazu. Aber die rosa Elefanten im Raum, über die niemand redet sind Flächennutzung, Bodenmarkt und Arbeitsmarkt. Und weil der Artikel schon recht lang ist, höre ich an dieser Stelle auf und schreibe meine Bedenken in eine Folgeartikel. In der Hoffnung, dass das für die Eine oder den Anderen ein „Cliffhanger“ ist.